Mythos Cadoretal

Wenn Tradition zur Kulisse wird
Ich liebe es, Reisen mit meiner beruflichen Leidenschaft zu verbinden. Mitte Juni war ich im Cadoretal unterwegs – dem historischen Zentrum der italienischen Brillenindustrie. Jeder Optiker, jede Optikerin hat diesen Namen schon einmal gehört. Doch kaum jemand weiß, wie dramatisch sich die Region verändert hat.
Was ich dort gesehen, gehört und erlebt habe, hat mich sehr nachdenklich gemacht. Denn auch mir war nicht klar, wie tiefgreifend die Veränderungen sind und wie sehr sie die Struktur der Region verändert haben. Vielleicht wird dieser Artikel auch Eure bisherige Sicht auf „Made in Italy“ beeinflussen … .

Einst war Cadore der Nabel der Brillenwelt
Calalzo, Pieve, Domegge – diese Orte waren über Jahrzehnte das Rückgrat der europäischen Brillenproduktion. In der Blütezeit, den 1950er bis 1980er Jahren arbeiteten hier über 10.000 Menschen in mehr als 100 Fabriken, Werkstätten und Zulieferbetrieben.
Fast jede italienische Brillenmarke hat hier - oder auch etwas weiter südlich in der Region Belluno - ihre Wurzeln: von Luxottica bis Safilo, von Marcolin bis De Rigo und unzählige weitere, zum Teil auch wenig bekannte OEM-Produzenten, die hochwertige Brillen für diverse Brillenmarken herstellten.
Es war ein hochspezialisiertes Ökosystem, das sich hier entwickelt hat: Rohmaterialien, Werkzeuge, Bügel, Scharniere, Polierer, Fassungen – alles in greifbarer Nähe. Ein wirtschaftliches Biotop, in dem sich handwerkliche Erfahrung und industrielle Effizienz perfekt ergänzten.

Heute sind die meisten dieser Strukturen verschwunden
Von der ursprünglichen Dichte ist kaum noch etwas übrig. Es ist leider auch nicht gelungen, neue, zukunftsträchtigere Wirtschaftzeige neu aufzubauen. In dieser wunderschönen Landschaft der südlichen Dolomiten bietet sich z.B. der Tourismus geradezu an. In der Realität ist jedoch die Anzahl und das Niveau der Hotels und Restaurants eher niedrig. Wer heute durch die Straßen fährt, sieht verlassene Werkhallen, umgenutzte Produktionsstätten, leer stehende Gewerbebauten.
Und auch wenn große Namen wie Luxottica noch präsent sind – der Großteil der realen Produktion findet längst nicht mehr vor Ort statt.
Der Begriff „Made in Italy“ täuscht: Laut geltender Regelung reicht es aus, wenn 30 % des Werts einer Brille in Italien entstehen. Das heißt konkret: Die Einzelteile – also Fassungsränder (oft gleich fertig poliert), Bügel, Scharniere usw., teilweise sogar Vormontagen – kommen längst aus Asien. Nur die Endmontage findet dann in den wenigen Betrieben statt, die hier noch den Eindruck von aktiver Brillenproduktion erwecken. Nur der allerletzte Schritt also.
Und trotzdem steht „Made in Italy“ auf dem Bügel.
Der Mythos versucht zu überleben – die Realität ist eine andere.

Dieser Brillenbauer bei Kador ist mit seinem wertvollen Erfahrungsschatz quasi unersetzbar.
Es gibt noch eine Handvoll Unternehmen, die 100% auf italienische Produktion setzen
Doch das meiste ist bereits verloren gegangen. Es geht dabei vor allem um Arbeitsplätze, natürlich. Aber das ist längst noch nicht alles.
👉 Es geht um Wissen, das nicht mehr weitergegeben wird.
👉 Um Handgriffe, die heute nur noch ein paar Mitarbeiter beherrschen, die schon im Rentenalter sind.
👉 Um eine Industrie, die sich in wenigen Jahrzehnten fast lautlos entkernt hat.
Es gibt jedoch auch Lichtblicke:
Ich habe bei meinem Besuch die Manufaktur von Kador besucht – eine der ganz wenigen Brillenmarken, die noch vollständig vor Ort fertigen.
Das Unternehmen ist bereits über 60 Jahre alt, doch der Spirit ist modern, zeitgemäß und zukunftsorientiert. Wenn man dort durch Produktionsräume geht spürt man, was es bedeutet, wirklich regional zu produzieren.
Der neue Inhaber ist ein erfolgter italienischer Brillendesigner, der noch die Glanzzeiten des Cadoretals mitgestaltet hat: Enzo Sopracolle. Er war früher Chefdesigner bei DeRigo. Die Geschäftsführung von Kador hat sein Sohn Mattea übernommen, ein sympatischer junger Mann, den ich in einem ausführlichen Gespräch kennengelernt habe.
Matteo Sopracolle gehört zu dem Teil seiner Generation, die die Traditionen der Familienunternehmen im Cadoretal erhalten und mit den Technologien unser Zeit verbinden wollen. Es sind noch nicht viele, die für dieses Revival kämpfen, doch ihr Mut und ihr Engagement sind super wertvoll, damit das Erbe dieser Region nicht nur erhalten bleibt, sondern etwas Neues daraus entstehen kann.
Neben der hochwertigen Brillenproduktion, die heute zum großen Teil mit hochmodernen Maschinen abläuft, gibt es bei Kador auch einen Mitarbeiter an einem besonderen Werktisch, der seine Technik jahrzehntelang verfeinert hat. Er ist eigentlich schon lange im Pensionsalter, aber er produziert immer noch wertvolle Einzelstücke auf Bestellung - von Hand. Jeder dort weiß, dass es niemand in der Firma gibt, der oder die ihn eines Tages ersetzen kann, denn die dafür notwendige Erfahrung und die Geschicklichkeit entsteht nicht in Jahren, sondern in Jahrzehnten.

Hinter dieser modernen Fassade verbirgt sich das Brillenmuseum

Museo dell' Occhiale in Pieve di Cadore
Und das Museum? Es schweigt
In Pieve di Cadore gibt es ein durchaus interessantes Brillenmuseum. Es zeigt die Anfänge. Die Phase der größten Erfolge. Die Erfindungen. Die Werkzeuge. Die Menschen. Es feiert die Pioniere der Vergangenheit - die großen Namen, die heute in unserer Branche allgegenwärtig sind.
Was fehlt?
Die Geschichte der letzten 30 Jahre. Die Deindustrialisierung. Die schleichende Verlagerung nach Fernost. Die Ausstellung endet – sinnbildlich – dort, wo es ungemütlich wird.

Warum ich darüber schreibe?
Weil ich glaube, dass wir als unabhängige Optiker:innen und Berater:innen genauer hinschauen müssen. Herkunft wird gerne als Verkaufsargument genutzt. Als Etikett. Als Qualitätsversprechen.
Aber was ist dieses Versprechen heute noch wert?
Und wie ehrlich gehen wir in unserer Kommunikation damit um?
Nicht nur im Cadoretal und einigen umliegenden Orten, auch im französichen Jura und auch in Deutschland ist die Produktion von großen Stückzahlen verschwunden.
In Spanien scheint es so, als ob sich rund um Barcelona in der vergangenen Dekade neue Produktionen angesiedelt haben. Dort gibt es ja viele jüngere oder wieder auferstandene Brands - sehr modisch, sehr cool - die in ihrer Kommunikation viel Wert auf ihre Herkunft lenken. Aber auch das ist eine Illusion. Auf „Made in Spain“ kann man sich genauso wenig verlassen wie auf „Made in Italy“. Was nicht heißt, dass es nicht auch dort vergleichbare Betriebe wie Kador geben könnte. Dafür müsste man aber wohl auch eine Recherche vor Ort machen.
Wie ist das möglich? Die Menschen (Optiker wie Kunden) lieben den schönen Schein. Sie wünschen sich, dass hochwertige Produkte noch regional hergestellt werden und fragen nicht wirklich nach. Die Hersteller erfüllen ihnen diesen Wunsch und stempeln solange „Made in Italy“, „Made in France“, „Made in Spain“ und ja – auch „Made in Germany“ in die Bügel, wie es die Gesetzeslage irgendwie hergibt.
Umso wertvoller für Puristen sind die Brands, die tatsächlich immer noch zu 100% auf die traditionelle Produktion und die ursprünglichen Standorte setzen. Ich habe auf Grund meines Besuchs hier Kador genannt, doch es gibt natürlich noch einige mehr – in verschiedenen Regionen in Westeuropa.
In Italien und in Frankreich gibt es dafür sogar ein eigenes Label: "100% Made in Italy" heißt es in Italien und "Origine France Garantie (OFG)" in Frankreich. Dort gibt es zusätzlich auch noch den Zusammenschluss "Savoir-faire des Lunetiers Français".
Viele dieser Produzenten sind gar nicht unter ihrem eigenen Namen bekannt – denn sie produzieren für hochwertige Independent Brands, die keine eigene Produktion haben, aber großen Wert auf Regionalität legen. Also beauftragen sie OEM Hersteller, die noch zuverlässig und in hoher Qualität in Westeuropa produzieren.
Was macht mir Hoffnung?
Es scheint einen Trend zu geben, dass mehr Menschen diese konsequente Produktion hier wertschätzen und auch bereit sind, mehr Geld dafür auszugeben.
Je mehr Optiker sich über diese Entwicklungen informieren und bewusst Kollektionen einkaufen, die tatsächlich in Europa produzieren, desto besser könnte ein Relaunch der regionalen Fertigung „Made in Italy“ und „Made in Europe“ ganz allgemein gelingen.

Foto KI-generiert
Drei kurze Impulse für die Beratung im Geschäft
✅ 1. Mythos erkennen – Realität reflektieren.
Der Name einer Region ist kein Garant für die komplette Anfertigung dort. Wenn Du mit Herkunft wirbst, solltest Du wissen, was wirklich dahintersteckt.
✅ 2. Positionierung braucht mehr als (Alibi)Stempel im Bügel.
Regionale Produktion kann ein tolles Merkmal sein. Aber nur, wenn sie den Realitäts-Check besteht. Deine Kunden spüren, ob Deine Story Substanz hat – oder nur Kulisse ist. Wichtig ist dabei natürlich auch, mit welchen Ansprüchen und welcher Konsequenz Du in den vielen anderen Aspekten Deines Geschäfts unterwegs bist.
✅ 3. Haltung zeigt sich im Blick hinter die Kulissen.
Wer ehrlich über seine Lieferketten spricht, baut Vertrauen auf. Gerade heute.
Das Cadoretal ist immer noch ein besonderer Ort
Ich freue mich, die Geschichte der Region jetzt besser zu kennen. Entscheidend für mein Interesse und vor allem meine Neugierde auf die zukünftige Entwicklung sind jedoch die Menschen, die sich dem jahrzehntelangen Trend des Niedergangs bewusst entziehen. Die weitergeben und weiterentwickeln, was verloren zu gehen droht. So wie Enzo und Matteo Sopracolle und ihre Mitarbeiter. Es sind diese Geschichten, die man erst richtig versteht, wenn man sich aufmacht, hinguckt und hinhört.
Nach meiner Reise bin ich zwar etwas desillusioniert, habe aber auch Hoffnung, dass die Wertschätzung für hochwertige, langlebige und regional produzierte Brillen langsam wieder steigt. Denn es gibt dort Menschen, die fest daran glauben - und es gibt auch immer mehr Optiker, denen dieses Thema sehr wichtig ist.
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